Anlässlich der 90. Jährung der Ereignisse an der Wolfsschlucht dokumentieren wir den nachfolgenden Artikel über die damaligen Ereignisse an der Gaststätte Wolfsschlucht vom 13. Oktober 1923. Der Artikel entstammt einer Ausgabe des “Meininger Kulturspiegel”, dem monatlichen Blatt des Meininger Kulturbundes, Jahrgang 1956, Seite 356-359. Trotz der recht guten Zusammenfassung der damaligen Ereignisse kommt in der Ausdrucksweise und Analyse die damals vorherrschende Sicht sehr deutlich zum Ausdruck.
Um an die Ereignisse zu erinnern und um darüber zu diskutieren wird eine Podiumsdiskussion am 13. Oktober 2013, ab 11 Uhr im ehemaligen Meininger Landtagsgebäude veranstaltet.

Vor 33 Jahren…

In der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag, vom 13. zum 14. Oktober 1923, waren in der Anton-Ulrich-Straße, vor dem Gasthaus “Wolfsschlucht”, von der Reichswehr 8 Einwohner angeschossen worden. Einer war sofort tot, zwei starben nach ganz kurzer Zeit, fünf waren mehr oder weniger schwer verletzt. Welchen Verbrechen hatten die Opfer einer Schießerei sich schuldig gemacht? Keines!

In der “Wolfsschlucht” war zwischen Meininger Einwohnern und Angehörigen der Reichswehr ein Streit entstanden, der sich auf der Straße fortsetzte. Ein gewisser Otto Ostertag nahm einem Soldaten das Seitengewehr ab und flüchtete damit, in die “Wolfsschlucht”, wo er es versteckte. Der Streit, der vor 11 Uhr begann, hatte auch Neugierige angelockt. Die Stimmung war damals allgemein politisch im Innern sehr gespannt, denn der Ausnahmezustand herrschte. Die Reichswehr hatte ihre Herrschaft eingeführt und hatte von dem „ehrenwerten” Herrn Wehrminister Gustav Noske die weitestgehenden Vollmachten für kriegsmäßiges Vorgehen erhalten. Vor der “Wolfsschlucht” hatte sich eine größere Anzahl Menschen angesammelt. Die städtische Polizei konnte sich nur schwer durchsetzen. Ein Soldat lief zum Rathaus und forderte einen Stoßtrupp der Reichswehr an. In kurzer Zeit kamen 10 Mann und 2 Unteroffiziere im Sturmschritt an. Von dem sehr “schneidigen” Unterfeldwebel Günther wurde vom Markt aus sofort der Befehl zum Schießen gegeben und mehrere Salven abgefeuert, mit dem Ergebnis, wie oben angezeigt. Bei den, Erschossenen bzw. Angeschossenen handelte es sich um folgende Personen:

  • Paul Grosse, Tüncher, Sachsenstraße 5/6;
  • Gottlieb Langguth, Bahnarbeiter, Dreißigackerer Straße 17;
  • Otto Sauer, Friseur, Spitalweg 6;
  • Fräulein Müller, Lehrerin, Werrastraße 3;
  • Christian Benkert, An der oberen Kuhtrift 9;
  • Wilhelm Brückner, Wintergasse 2;
  • Karl Baumann, Friseur, Anton-Ulrich-Straße 48;
  • Karl Böttcher, Wintergasse 6.

Grosse, Langguth und Sauer waren die drei Toten.
Nach diesem opferreichen Vorfall, in seinen Folgen verursacht durch ein blindwütiges Vorgehen willfähriger und zugleich verantwortungsloser Militärs, insbesondere des Unterfeldwebels Günther, wurde die Meininger Polizei durch Landespolizei verstärkt. Unmittelbar nach dieser Untat verlangten die Arbeitervertreter im Gemeinderat durch ihren Wortführer Karl Oßwald so wie die Gen. Langbein und Paul Hildebrand, daß die 3 Leichen im Rathaus aufgebahrt werden. Es sollte eine Demonstration sein gegen das rechtlich als auch sachlich unbegründete und gewaltsame Vorgehen der sogenannten Wachbereitschaft, die damit zum Mörder geworden war.
Oberbürgermeister Keßler und Stadtrechtsrat Schopper lehnten die Inanspruchnahme des Rathauses für die Ehrung der drei toten Meininger Bürger, sämtlich Familienväter, ab. Die Turnhalle der heutigen Theo-Neubauer-Schule wurde zur Verfügung gestellt. Die Aufbahrung konnte aber auch hier nicht erfolgen, weil der Kreisarzt die Leichen nicht freigab, Begründung: Ausnahmezustand. Die Toten wurden hinter der Friedhofshalle aufgebahrt. Am Donnerslag, dem 18. 10., nachmittags um ½4 Uhr, fand die Beerdigung unter sehr starker Beteiligung der Meininger Bevölkerung statt. Der Arbeiter-Gesangverein “Frohsinn” leitete die Trauerhandlung ein mit dem „Hymnus an die Freiheit”. Gewerbe-Inspektor Arno Köhler, der SPD angehörig, hielt die Gedenkrede. Dann folgte vom Chor das Lied “Ein Sohn des Volkes will ich sein”, (Langgut hatte der SPD, Sauer der KPD und Grosse den Anarcho-Syndikalisten angehört). Am Grabe sprach dann Kreisdirektor Louis Rennert — SPD, ferner für die Thüringer Regierung Ober-Landesgerichtsrat Dr. Karl Korsch von Jena (K. war geborener Meninger. Sohn des damals schon verstorbenen Bankdirektors Korsch). Karl Korsch war Mitglied der KPD. Von Suhl sprach ein Vertreter des Industrieverbandes. Der Chor sang das Lied “Völkerfrieden” und zum Schluß des öffentlichen Teils der Feier spielte eine Musikkapelle “Ich hatt einen Kameraden”. Pfarrer Büchner sprach für 2 Tote, die der Kirche angehört hatten.
Staatsminister Gen. August Fröhlich gab im Thüringer Landtag alsbald danach die Erklärung ab, daß die Regierung versuchen werde, völlige Klarheit in diese Vorgänge zu bringen und nicht eher zu ruhen, bis der Ausnahmezustand beseitigt sei. Doch es kam nichts bei diesem Bemühen heraus. Der Januskopf Herrn Noske hatte zu der Zeit noch mehr Gewicht als die gutwilligen Thüringer Männer in der nur noch kurze Zeit bestehenden sozialdemokratisch-kommunistisehen Regierung. Stadtrechtsrat Schopper hatte schon am 15.10. an die “Werra-Wacht” geschrieben mit dem Ersuchen, einen von dieser beabsichtigten Artikel mit völliger Klarstellung der ungeheuerlichen Vorgänge zurückzustellen, bis ein Bericht der Stadtverwaltung vorläge. Angriffe gegen die Reichswehr seien auf Grund des Ausnahmezustandes verboten; aufregende Artikel strafbar: Gefahr des Verbots der Zeitung. Basta! — Der sehr besorgte Herr Sehopper hatte seine Warnung nur an die “Werra-Wach” gerichtet. Demnach hatte er beim “Meininger Tageblatt” und der “Thüringer Dorfzeitung” von vornherein nicht mit dem Bedürfnis und Verlangen nach restloser Klärung gerechnet. Der am nächsten Tag folgende Bericht der Stadtverwaltung umfaßt nur einige Zeilen und ist mehr als jämmerlich. Eire Untersuchung, Zeugenvernehmung und Gegenüberstellung, das Verlangen einer öffentlichen Verhandlung oder ähnliches war nicht einmal angedeutet. Einige aufklärende Momente brachte der Bericht des Presseamtes Thüringen. Darin wurde u.a. auf Folgendes hingewiesen: “Die in der Ansammlung tätigen kommunalen Polizeibeamten, welche, als die Reichswehr feuerte, noch beschäftigt waren, die Versammelten zu zerstreuen, erklärten, vom einer Aufforderung zum Auseinandergehen nichts gehört zu haben, so daß sie selbst ihr Leben nur durch die Flucht retten konnten.” In zwei langen Berichten vom 17. und 18. 10. in der “Werra-Wacht” über die Verhandlungen im Gemeinderat kommt zum Ausdruck, daß die Arbeiter in der Hauptsache durch den sozialdemokratischen Gemeindvertreter Oßwald eine gründliche Behandlung der Vorgänge forderten.
Ihre Darlegungen wurden aber als ein seitig verschrien bei den bürgerlichen Herren, denn man müsse ja auch die “anderen” hören. Und die anderen waren in der Hauptsache die Totschläger selbst. Die Bekundungen von einer ganzen Reihe Zeugen, daß die Aufforderung zur Räumung der Straße so kurz, vor dem blinden Schießen erfolgte, daß es unmöglich war, in diesen Augenblicken dem Folge zu leisten, wurden einfach nicht beachtet.
Hier sei noch erwähnt, daß der Friseur Baumann durch Querschläger schwer verletzt wurde. Er war nicht auf der Straße, sondern schaute aus seiner im ersten Stock gelegenen Wohnung aus dem Fenster. Der Gen. Volz als Augenzeuge, der damals Vorsitzender der KPD-Ortsgruppe war, kann sich noch gut an diese Vorgänge erinnern. Der schießwütige Unterfeldwebel Günther hatte schon vorher allerlei Sonderaufträge von seinen Vorgesetzten Dienststellen zur Ausführung übertragen bekommen. So war z. B. auch der Gen. Volz nach einer bei ihm vorausgegangenen Haussuchung verhaftet worden und mußte dann zwei Stunden mit erhobenen Armen im Kassernenflur an der Wand stehen. Wenn der Körper zu erlahmen drohte, dann frischte der Herr Günther mit Knüppelhieben auf. So ist der republikanische Feldwebel mit einer ganzen Reihe Leute schon lange vor sein er Hauptaktion am 13. 10. 1923 verfahren. Einen besseren “Beschützer” ihrer Interessen konnte die Reaktion gar nicht finden. Nach den voraufgegangenen Einzelakten an wehrlosen Menschen war dieser Schießbefehl keine Affekthandlung, aus Angst oder in Überstürzung gegeben, sondern vom Empfang des Auftrags an hat bei der moralischen Qualität dieses Mannes die Absicht Vorgelegen, ein Exempel zu statuieren: die Kanaille muß kirre gemacht werden. Bewährte Taktik: “Befehl zur Räumung der Straße und Schießen muß eins sein. Schrecken muß erzeugt werden. Wir wissen, daß wir von oben gedeckt werden.” Gen. Volz weiß, daß die Genossen aus eigenen Mitteln einen Grabstein beschafft, und von einem Mitglied haben meißeln lassen. Außer den Namen war der Satz eingemeißelt: “Von der Reichswehr erschossen” Der Stein wurde von ihnen selbst aufgestellt. Nach kurzer Zeit holte ihn die Meininger Polizei herunter, weil es für die politischen, militärischen und sonstigen “Ordnungsorgane” unangenehm war, dieses steinerne Zeichen der ständigen Anklage auf dem Friedhof zu wissen. Die Polizei hatte auftragsgemäß den Stein im Keller des Rathauses vor den Augen der Öffentlichkeit verborgen. Hier hat er gelegen bis nach dem Zusammenbruch 1945. Jetzt steht er wieder an der ihm zugedachten Stelle als Mahnmal an eine Untat von organisierter Grausamkeit.