Im Meininger Tageblatt, in der Ausgabe vom Mittwoch dem 9. Oktober 2013, Seite 9, erschien ein ausführlicher Artikel mit historischen Hintergundinformationen und den Eckdaten unserer Podiumsdiskussion, den wir nachfolgend zitieren.


Todesschüsse vor 90 Jahren

Eine Podiumsdiskussion unter dem Thema „1918 und die Jahre danach“ wird am Sonntag, 13. Oktober, ab 11 Uhr die ereignisreiche Epoche der Meininger Geschichte nach Auflösung des Herzogtums beleuchten.
Von Peter Schmidt-Raßmann

Meiningen – Drei tote und fünf verletzte Meininger war die blutige Bilanz eines Zwischenfalles, der sich am 13. Oktober 1923, eine Stunde vor Mitternacht zum Sonntag, mitten auf der Anton-Ulrich-Straße vor der Gaststätte „Wolfsschlucht“ ereignet hatte. Das Meininger Tageblatt titelte in seiner folgenden Montagsausgabe dazu „Blutiger Ausgang einer Reiberei zwischen Zivilisten und Reichswehr“. Eine Reiberei? Die Wortwahl klingt in heutigen Ohren eher verharmlosend, abwiegelnd, meinte aber damals wohl schon eher Feindseligkeiten. War das blutige Ereignis selbst von seinem Ausgang schon schrecklich genug, folgte ihm ein unsägliches Nachspiel im Zusammenhang mit der Ehrung der Toten. Abgesehen davon, dass eine juristische Aufarbeitung des Ereignisses nie erfolgte.
Was war nun in jener Nacht geschehen? Widersprüchlich sind die Angaben, die Augenzeugen bis zum ersten Zusammentreffen von Reichswehrsoldaten mit Zivilisten in der Anton-Ulrich-Straße machen. Linke Stadtverordnete meinten in der Stadtratssitzung am 16. Oktober 1923, den Soldaten „provozierendes Verhalten“ bescheinigen zu müssen. So provozierend, dass ein Meininger einem von ihnen das Seitengewehr „entriss“ und damit das Weite suchte.


Vor der Gaststätte „Wolfsschlucht“, hier eine historische Aufnahme vor 1905, spielte sich auf der Anton-Ulrich-Straße am 13. Oktober 1923 das dramatische Geschehen ab, das mit dem Tod von drei Menschen endete. Repro: P. Schmidt-Raßmann

Menschenansammlung Die Reichswehrsoldaten vermuteten, dass der Waffendieb in der Gaststätte „Wolfsschlucht“ (ein Lagerbier kostete 170 Millionen Mark!) untergetaucht war und betraten deshalb das Lokal. Dort fanden sie nicht nur den Gesuchten nicht, vor allem schlug ihnen Feindseligkeit entgegen. Es kam zum Streit, schließlich sogar zu Handgreiflichkeiten, die sich auf der Anton-Ulrich-Straße zu einer Schlägerei auswuchsen. Augenzeugen berichteten, dass sich bald 200 Personen dort angesammelt hatten. Kommunale Polizeibeamte konnten die Kontrahenten nicht sofort trennen. Inzwischen war die von den Soldaten alarmierte Bereitschaft des Bataillons in Person von zwei Unteroffizieren und zehn Soldaten angerückt, die die scharfe Salve abfeuerten. Ein Toter und sieben Verletzte blieben auf der Straße liegen, von denen zwei weitere in der Nacht im Georgenkrankenhaus verstarben.
Der Dieb des Seitengewehrs hatte sich tatsächlich in einem Verschlag in der „Wolfsschlucht“ versteckt gehalten und konnte entkommen. In seinem Versteck fand sich die Waffe.
Die in der Menge handelnden Meininger Polizeibeamten versicherten, dass die Reichswehr keinen Grund zum Abfeuern der Salve gehabt habe und dass sie nicht einmal versucht hätte, mit der Polizei in Verbindung zu treten.
Das Wehrkreiskommando V in Stuttgart, ihm unterstand die Reichswehr in Südwestdeutschland und Thüringen, hatte hier den reichsweit verhängten Ausnahmezustand (Versammlungs-, Demoverbot unter freiem Himmel) zu garantieren. Es stellte den „blutigen Zusammenstoß“ in Meiningen als Angriff von drei Zivilisten auf einen Reichswehrsoldaten dar, dem sein Seitengewehr entwendet worden war. Da die Polizei die aufbegehrenden Menschen nicht habe trennen können, hätten die Soldaten die Wachbereitschaft alarmiert. Die Meininger wären ihnen gegenüber feindselig aufgetreten, hätten die Soldaten beschimpft und bedroht. Sogar ein Schuss sei gegen die Soldaten aus der Menge gefallen, bevor die Salve abgefeuert wurde.
Zur Trauerfeier auf dem Parkfriedhof am 18. Oktober 1923, die unter zahlreicher Anteilnahmer der Meininger stattfand, wurde eine Erklärung des Thüringer Landtages verlesen. Darin heißt es unter anderem: „In Meiningen ist durch die Schuld der Reichswehr, die von der Polizei nicht zur Hilfe gerufen worden ist, wertvolles Arbeiterblut geflossen. Drei Menschen haben ihr Leben eingebüßt. Die Regierung bedauert den Verlust der Opfer, die ohne das Eingreifen der Reichswehr vermieden worden wären.“
In den unterschiedlichen zeitgenössischen Darstellungen des Geschehens war bis dahin keinerlei Aussage zu den politischen Haltungen der Getöteten enthalten, ja man vermied geradezu, in dem Vorfall vor der „Wolfsschlucht“ eine politisch motivierte Aktion zu sehen. Die Erschossenen, Otto Sauer (KPD), Gottlieb Langguth (SPD) und Paul Große (Anarcho-Syndikalist), galten als „Rote“, „ohne daß sie ihre Weltanschauung bei jenem traurigen Anlaß verraten hätten“. Im Jahr darauf beabsichtigten die Linken, ihren beiden Genossen einen Gedenkstein auf dem Friedhof zu setzen. Dieser sollte oben einen roten Sowjetstern mit Hammer und Sichel tragen und unter den beiden Namen den Satz „Erschossen von der Reichswehr.“ Die Genehmigung zur Aufstellung wurde nur erteilt, wenn dieser Satz durch eine nicht leicht zu entfernende Abdeckung unsichtbar blieb. Die beantragte Gedenkfeier zur Einweihung des Steins wurde nicht genehmigt – noch immer galt das rigide Regime des Ausnahmezustandes. Als bekannt wurde, dass trotzdem eine Feier durchgeführt werden solle, ließ die Stadtverwaltung kurzerhand den bereits gesetzten Grabstein entfernen. Den erschienenen Genossen und Angehörigen wurde von der Polizei jede Äußerung am Grab verboten, Kränze durften abgelegt werden. Die Feier wurde im „Hackskeller“, ein „geschlossener Raum“, durchgeführt.


Stadtrat Michael Wagner (2. v. r.) und engagierte Mitstreiter des Wandervereins Bakuninhütte wie Achim Fuchs, Hans-Peter Sauer und Christian Horn richteten kürzlich auf dem Meininger Parkfriedhof die Grabstätten von Gottlieb Langguth, Otto Sauer und Paul Große (dessen Name wurde auf dem Stein fälschlich mit K geschrieben) her. 1923 waren der Sozialdemokrat, der Kommunist und der Anarchist im Zuge von Unruhen und Demonstrationen im damals politisch aufgewühlten Deutschland in Meiningen erschossen worden. Hans-Peter Sauer ist der Enkel einer der durch Reichswehr-Soldaten Ermordeten. Der Bakunin-Verein wollte mit der Aktion an diese Tat erinnern.

Podiumsdiskussion Der entfernte Grabstein kam über 20 Jahre später beim Beräumen der Marktwestseite unter den Trümmern der Rathausruine wieder ans Licht. Offensichtlich war er dort im Keller 1924 verwahrt worden. Der Stein wurde in den fünfziger Jahren wieder an ursprünglicher Stelle aufgestellt. Jahre später wurde der Stein mit dem Sowjetstern durch einen neuen ersetzt, der heute noch zu sehen ist. Auf diesem sind nun die Namen aller drei damals Erschossenen unter dem Spruch: „Den Patrioten, die gegen Reaktion u. Faschismus ihr Leben gaben“ aufgeführt.
Die Podiumsdiskussion am Sonntag will versuchen, einige Zusammenhänge jener bewegten Zeit in Meiningen deutlich zu machen. Der Veranstaltungsort, das ehemalige Meininger Landtagsgebäude, wird mit der Diskussion erstmals nach seiner jahrzehntelangen Nutzung als Fernmeldeamt „wiederbelebt“. Als Teilnehmer werden auf dem Podium Platz nehmen Prof. Dr. Alfred Erck, Meiningen, Heidemarie Schwalbe, Lehrerin aus Suhl, und Achim Fuchs, Lehrer im Ruhestand aus Meiningen. Die Gesprächsleitung übernimmt Kai Richards, Student der Geschichtswissenschaft der FU Berlin.

Podiumsdiskussion am Sonntag, 13. Oktober, ab 11 Uhr. Zur Veranstaltung lädt der Wanderverein Bakuninhütte in die Eleonorenstraße 3 ein, dem einstigen Meininger Landtagsgebäude.