Die warmen Spätsommertage, die 2023 das dritte Septemberwochenende bot, luden dazu ein, sich auf der Bakuninhütte zu treffen und im Schatten der umgebenden uralten Bäume aktuelle Forschungen vorzustellen und gemeinsam zu diskutieren.

 

 

Der folgende Bericht dokumentiert das 5. Forschungsseminar an der Bakuninhütte (15. bis 17. September 2023).

Die jährlichen Treffen sind umsowichtiger, als es in Deutschland derzeit kein anderes Format gibt, das sich direkt anarchosyndikalistischer und anarchistischer Geschichte widmet und in dem ein Austausch über Quellen, Forschungsdesigns und inhaltliche Fragen möglich ist. Es waren zwölf Teilnehmer:innen angereist, von denen zehn in jeweils einer halben Stunde ihre Projekte vorstellten. Zu den überraschenden Funden von Bildmaterial der letzten Jahre gehört ein Konvolut von ca. 400 Fotos aus dem Nachlass von Wilhelm Wehner, dessen Leben und Wirken allenfalls in Schweinfurt noch bekannt ist. Dort widmet sich seit Jahren Norbert Lenhard der Erforschung der lokalen Arbeiter:innenbewegung und präsentiert seine Ergebnisse in Stadtführungen. In diesen Kontext fügt sich die Sichtung des neu aufgefundenen Bildmaterials gut ein. Die Ergebnisse sollen zudem in eine Biografie von Wehner einfließen. Wehner war in Berlin Redakteur der Wochenzeitung Der Revolutionär, organisierte in Stuttgart die Gruppe des „Sozialistischen Bundes“ und wurde nach seiner Rückkehr nach Schweinfurt eine der zentralen Persönlichkeiten der dortigen Arbeiter:innenbewegung. Er gab wesentliche Impulse für die Gruppe der Freien Arbeiter Union (FAUD), wirkte bei den Naturfreunden sowie den Freidenkern und war gewerkschaftlich in verschiedenen Positionen aktiv. Bei seiner Beisetzung 1968 gaben ihm unter der Aufsicht der Polizei mehrere hundert Weggefährt:innen das letzte Geleit.

Bernd Jerzimbeck widmet sich zusammen mit fünf weiteren Interessierten der Erforschung des kompositorischen Nachlasses von Peter Heinrich Ortmann, der im Auftrag der FAUD in Düsseldorf die Leitung mehrerer Chöre und großer Konzertveranstaltungen übernommen und zahlreiche Lieder und Chorwerke geschrieben hatte. Das Noten- und Aufführungsmaterial musste nach 1933 an die Polizei abgeliefert werden und wurde wahrscheinlich komplett vernichtet. Aus dem Gedächtnis rekonstruierte Ortmann nach 1945 zahlreiche Werke. Die handschriftliche Kladde ist erhalten und soll nun transkribiert werden. Zwei Lieder wurden mit hohem Aufwand bereits druckreif aus der Handschrift gesetzt. Mit dem transkribierten Material könnten Aufführungen durch Chöre möglich werden, und vielleicht lassen sich zusätzlich moderne Bearbeitungen erstellen, die das musikalische Werk heute in zeitgemäßer Form wieder erlebbar machen. Zusammen mit anderem Liedgut, das im Kaiserreich und in der Weimarer Republik von Anarchist:innen und Anarchosyndikalist:innen gesungen wurde, sollen wichtige Teile von Ortmanns Werk in einem Liederbuch veröffentlicht werden. Großen Wert legt die Gruppe darauf, dass die Lieder darin in ihrem historischen und musikalischen Zusammenhang dargestellt werden.

Eine globale Ausrichtung verfolgt die Dissertation von Anna Regener. In ihrer Buchgeographie untersucht sie die globale Verbreitung von Büchern, die den Begriff „Anarchismus“, in jeweiliger Übersetzung, im Titel führen. Anhand der Onlinekataloge von 120 Nationalbibliotheken weltweit konnten die spezifischen Wellen von Veröffentlichungen ab 1884 ermittelt werden. Zu den markanten Clustern werden Fallstudien eingefügt, z. B. zuden ersten 10 Jahren „Anarchismus“ beginnend mit der 1884 veröffentlichten Kontroverse von Paul Grottkau und Johann Most, zur Revolutionszeit um 1906 in Russland, zur Welle der 1970er Jahre und zur vielfach übersetzten und verbreiteten Polemik Anarchismus oder Sozialismus von Joseph Stalin. Bereits erkennbar ist, dass die Verbreitung und Lebenszyklen von Büchern und Werken nicht direkt mit der Entwicklung der „globalen Bewegung“ korrelieren, sondern sich vielmehr über Sprach- und Rechtsräume abbilden. Im kommenden Jahr soll die Arbeit fertiggestellt werden.

Im Rahmen ihrer Frauen- und Feminismusforschungen gibt Gisela Notz seit 2003 Kalender heraus, deren Monatsblätter Wegbereiterinnen vorstellen, bedeutende Frauen, die zu Unrecht vergessen wurden. Jedes Monatsblatt enthält ein Porträt und einen Text mit biographischen Angaben. Unter den Vorgestellten finden sich etliche Anarchistinnen. Die Spannweite reicht von Politikerinnen bis hin zu Künstlerinnen. 2018 wurden dieKalenderbeiträge aus 17 Ausgaben in dem gleichnamigen Buch veröffentlicht, das mittlerweile schon die dritte Auflage erlebte. Mit den Wiederentdeckungen konnten wiederum weitere Forschungen angestoßen werden. Es können nicht nur Frauen, sondern auch Autoren schreiben, wenn die Themen passen. Sie rief dazu auf, an dem Projekt mitzuwirken und so die Ergebnisse biografischer Frauenforschungen einem allgemeinen Publikum vorzustellen.

Nach dem Erscheinen der politischen Biographie Gustav Landauers 2014 gründete sich ein Jahr später die gleichnamige Landauer-Initiative, deren Veröffentlichungen von Erik Natter vorgestellt wurden. Dabei handelt es sich primär um Auswertungen bisher unberücksichtigter Primärquellen, die als Broschüren kostengünstig angeboten werden. 2023 sind bislang ein Beitrag zum Berliner Friedhof der Märzgefallenen als anarchistischem Traditionsort und die Transkription der Notizbücher von Erich Mühsam aus den Jahren 1926–1933 in zwei Bänden erschienen. Derzeit sind Veröffentlichungen zur Geschichte der Berliner FAUD, zum syndikalistischen Frauenbund und zum Beitrag von Anarchist:innen zur frühen Genossenschaftsbewegung in Arbeit. Ein weiterer Schwerpunkt sind umfangreiche Digitalisierungen von historischen Periodika und der Austausch mit Forschenden.

Ein Lesebuch mit weithin unbekannten Texten aus dem Vormärz und der Revolution von 1848/49 präsentierte Olaf Briese, der sich schon geraume Zeit mit Anarchismen in der politischen Literatur des Vormärz befasst. In zwei Bänden kommen die Protagonist:innen selbst zu Wort. Nicht immer bezeichnen sich die Autor:innen als Anarchist:innen, vielmehr verbindet sie die Forderung nach der „ganzen Freiheit“. Zu unterscheiden sind in dieser Zeit drei Hauptströmungen, die von Intellektuellen vertreten wurden: die Berliner „Freien“, die zum Individualanarchismus tendierten, die sog. „wahren Sozialisten“, also die libertären Sozialisten um Moses Hess und Karl Grün, sowie die in der Schweiz verbreiteten Gruppen der Arbeiter- und Handwerkeranarchisten um Wilhelm Marr. Ein Kapitel würdigt die Zeugnisse von Frauen, darunter „Baronin“ Emilie Lehmann, die 1848 den Gedichtband Sonnenschirm und Reitpeitsche und einen Aufruf zur Emanzipation verfasste.

Xavier Bougarel stellte seine Arbeit zum Anarchosyndikalismus und dem Arbeitsrecht in der Weimarer Republik vor. Darin untersucht er die Beteiligung der Freien Arbeiter Union Deutschlands an den Betriebsratswahlen und am Abschluss von Tarifverträgen. Die Fragestellung zielt darauf ab, ob die FAUD in der Weimarer Republik wirklich einen Niedergang erlebte. Seine These ist, dass die Anzahl der Aktivist:innen stabil blieb und erst die Verfolgung durch den NS-Staat zu ihrer Vernichtung führte. Die marxistische Erklärung, der Anarchosyndikalismus sei nur eine frühe Phase der Arbeiterbewegung gewesen, greift hier zu kurz. Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung ist die Feststellung, dass das Überleben syndikalistischer Strukturen von den jeweiligen verfolgten kreativen Taktiken abhängig ist, die der wirtschaftlichen Lage angemessen sein müssen. Ein „pragmatischer Syndikalismus“ verhinderte nicht den Mitgliederschwund, der am Ende der revolutionären Phase 1924 einsetzte.

Über seine Recherchen zum Schicksal der Opfer des Nationalsozialismus aus den Reihen der anarchistischen und anarchosyndikalistischenBewegung referierte Hartmut Rübner. Bislang fehlt ein Gedenkort ebenso wie ein Verzeichnis der betroffenen Personen. Zudem ist der Opferbegriff schwer abgrenzbar. Auch sind die Kriterien der organisatorischen Zugehörigkeiten klärungsbedürftig. Insgesamt ist noch eine intensive Recherche der Opferschicksale vor Ort notwendig. Eine erste Aufstellung der Opfer umfasst 39 Personen, die entweder in der Gefängnis- und Zuchthaushaft, in den KZs, in der Strafdivision 999 oder auf andere Weise zu Tode gebracht worden sind. Es wäre denkbar, eine erweiterbare Open Access-Publikation zu starten, die als Internetpräsentation konzipiert und zusätzlich als kommentierte Dokumentation mit Einleitung gedruckt werden könnte. Als Orte der Erinnerung bieten sich die beiden erhaltenen Gebäude in Berlin an, in denen die Geschäftskommission der FAUD ihren Sitz hatte, in der Warschauer Straße bzw. am Märkischen Ufer. Hinzu kommen der geplante Gedenkort für Erich Mühsam im KZ Oranienburg und die Bakuninhütte nahe Meiningen.

Eine wissenschaftliche Leerstelle füllt die Dissertation von Jan Rolletschek. Darin untersuchte er die Bedeutung der Philosophie Spinozas für die organisatorische und publizistische Praxis Gustav Landauers. Das Verfahren der Arbeit war zugleich historisch und theoretisch. Es hatte vor allem darin bestanden, Landauers eingreifende Publizistik auf ihre philosophischen Voraussetzungen zurückzuführen und sein Denken zu verschiedenen Zeitpunkten als relative systematische Einheit zu konstruieren. Im Grunde ging es darum, Texte, die nicht in erster Linie als theoretische Texte geschrieben worden sind, dennoch als solche zu lesen, um die darin „prozessierende“ Philosophie hervortreten zu lassen. Dabei hat sich die These, dass es sich beim antipolitischen Werk Landauers um einen Anarchismus auf spinozistischer Basis handelt, sehr weitgehend bestätigt. Vor diesem Hintergrund erscheinen seine praxisphilosophischen Ansichten in einem deutlicheren Licht und lassen sich für heutige Auseinandersetzungen aktu-alisieren. Die Arbeit soll Anfang des Jahres eingereicht werden.

Kai Richarz berichtete von der Tätigkeit der Geschichts-AG des Vereins der Bakuninhütte. Das Vereinsarchiv bedarf weiterhin einer professionellen Überholung und Digitalisierung. Für eine potentielle Übernahme laufen bereits Gespräche mit dem Staatsarchiv Meiningen. Die AG plant, jeweils ein Thema im Jahr zu bearbeiten und hierzu diverse Formate anzubieten. So soll es 2025/2026, zum 100. Jubiläum des Bestehens der Bakuninhütte, wieder eine größere Tagung geben, die im Umfang dem Programmvon 2015 entsprechen könnte. Neben den wissenschaftlichen Beiträgen könnte auch ein Kunstwettbewerb für ein dauerhaftes Erinnerungszeichen an den Jahrestag ausgeschrieben werden. Ein besonderer Schwerpunkt bei wiederkehrenden Tagungen könnte das Thema „Anarchismus und Ökologie“ sein. Hierzu soll ein erster Workshop zu Pfingsten im nächsten Jahrstattfinden. Die Wanderausstellung zur Geschichte der Hütte ist einsatzbereit und kann an Interessierte verliehen werden. Als Kooperationspartner für eine Veranstaltungsreihe könnte auch das Meininger Theater infrage kommen, z. B. wäre eine gemeinsame Tagung über Gustav Landauers Aktivitäten im künstlerischen Ausschuss der Volksbühne und zu seinen Theaterkritiken denkbar. Ein Meininger Arbeitskreis zur Geschichte der Blutnacht an der Gaststätte Wolfsschlucht im Jahre 1923 plant für den 13. und 14. Oktober 2023 die Einweihung einer Gedenkplatte und eine temporäre Ausstellung. Bei einem Überfall der Reichswehr wurden drei Arbeiter erschossen, die der SPD, KPD und der FAUD angehörten. Ein Sonderheft soll bekannte Persönlichkeiten der Arbeiter:innenbewegung würdigen, darunter den in Meiningen aufgewachsenen Karl Korsch, den Mitbegründerder Bakuninhütte Otto Walz und den Pädagogen und Theoretiker der Volksbildung Eduard Weitsch.

Die Referate waren eingebunden in drei Tage des geselligen Beisammenseins. Es wurde gemeinsam gekocht und gegrillt und zum Abschluss des erfolgreichen Treffens gab es noch eine Wanderung rund um die Hohe Maas, das Hochplateau, in dessen Mitte das anarchosyndikalistische Kulturdenkmal Bakuninhütte liegt.

 

Die Veranstaltung wurde gefördert durch: