Die Geschichte von Otto Walz, geboren am 3. Juli 1890 in Meiningen, ist ein beeindruckendes Kapitel politischer Praxis im 20. Jahrhundert. Geprägt von den katastrophalen Folgen des Ersten Weltkrieges und den sozialen Kämpfen der Weimarer Zeit, entfaltete sich sein Leben als ein bemerkenswertes Beispiel für Solidarität und den Einsatz für soziale Gerechtigkeit.

FAUD Meiningen (1920/21) auf der Hohen Maas, Otto Walz achte Person von rechts, vor dem Kinderwagen, mit Mütze und Schnauzbart

Der junge Tischler Otto Walz erlebte die Schrecken des Ersten Weltkrieges aus nächster Nähe und wurde durch sie zum Invaliden. Doch statt in Passivität und Resignation zu verfallen, investierte er viel in politische Veränderungen. Eine erste große Gelegenheit hierzu bekam er im Jahr 1918, als er im Zuge der Novemberrevolution in den fünfköpfigen Meininger Arbeiterrat gewählt wurde. An der Seite von Karl Korsch stritt er für sozialen Wandel und half durch die Zurückdrängung der Monarchie, den Weg für eine demokratischere Zukunft zu ebnen. Ihr Einsatz galt den Menschen, deren Lebensgrundlage von Lohnarbeit abhing, und einer Zukunft, in der gegenseitige Hilfe und soziale Gerechtigkeit im Mittelpunkt standen.

Die Ereignisse des Jahres 1919 stellten erneut Ottos Engagement unter Beweis. Gemeinsam mit anderen wagte er sich auf eine mutige Kaperfahrt mit einer Lok, die sie aus dem Meininger Reichsbahn-Ausbesserungswerk (RAW) entwendeten, um mittels Flugblätter in Hessen zu Solidarität für Arbeitskämpfe aufzurufen. Die Bahnstreiks im Herbst jenes Jahres waren geprägt von einem tiefen Verlangen nach besseren Arbeitsbedingungen und einer gerechteren Gesellschaft. Selbst die kurzzeitige Inhaftierung von Otto und anderen Beteiligten, die nur durch die Androhung neuer Streiks beendet wurde, konnte seinen politischen Einsatz nicht bremsen.

Bakunin Schutz Hütte, Winter 1926/27, v. l. n. r.: A. Filler, O. Walz, F. Dressel

Otto Walz war Teil der hoch politisierten Belegschaft des RAW und darum höchst wahrscheinlich zugegen, als im Sommer 1919 eine Ortsgruppe der anarchistischen Gewerkschaft F.A.U.D. (Freie Arbeiter-Union Deutschlands) in Meiningen erste Aktivitäten entfaltete. Er war nicht nur eine treibende Kraft für den lokalen Anarcho-Syndikalismus, sondern auch Mitbegründer des „Siedlungsvereins Gegenseitige Hilfe“ im Jahr 1927, dem Trägerverein der Bakuninhütte. Gemeinsam mit seinem politischen Weggefährten und Wahlnachbarn Franz Dressel sowie ihren eng miteinander verbundenen Familien bildeten sie den aktiven Kern dieser Heimstätte der syndikalistischen Bewegung. Unter dem Einfluss von Otto Walz wurde die Bakuninhütte zu einem Symbol für Solidarität und Widerstand gegen staatliche Bevormundung und Repression. Die von Ottos Sohn „Heini“ gefertigten Gedenksteine erinnerten an ihr gemeinsames Wirken und ihre basisdemokratische Weltanschauung. So positionierten sie sich unter anderem gegen die repressive Gewalt bewaffneter Staatsorgane. Dies verwundert nicht vor dem Hintergrund jener Blutnacht von 1923 vor der Meininger Gaststätte Wolfsschlucht, bei der mit Paul Große auch ein Anarchosyndikalist ermordet wurde. Ein Gedenkstein auf dem Grundstück der Bakuninhütte erinnerte thematisch passend an die anarchistischen Repressionsopfer Ferdinando Sacco und Bartolomeo Vanzetti, die 1927 in den USA trotz weltweiter Massenproteste zu Unrecht hingerichtet wurden. Doch ihre Gemeinschaft präsentierte auch eine positive Vision einer besseren Welt, wie der Hüttenspruch der Bakuninhütte verdeutlicht:

Freies Land und freie Hütte,
Freier Geist und freies Wort,

Freie Menschen, freie Sitte,
Zieht mich stets zu diesem Ort.“

Britta Uloth mit „Heini“ Walz 1931 an der Bakuninhütte

Zusammen mit seiner Frau Marie, geborene Vinauer, führte Otto Walz ein Familienleben, das von sechs Kindern geprägt war: Auguste („Guste“), Anna, Edwin, Frieda, Maria („Mariechen“) und Heinrich („Heini“). In den frühen 1930er-Jahren bezogen die Familien Walz und Dressel je eine Hälfte eines neu errichteten Siedlungshauses in der Meininger Heuleite. Die Musik verband sie alle miteinander. Otto spielte die thüringische Waldzither, seine Tochter Mariechen beherrschte die Gitarre und Sohn Edwin meisterte Banjo und Mandoline. Im Rahmen des Arbeiter-Gesangvereins verbrachten Otto Walz und Franz Dressel viel Zeit in der Meininger Gaststätte „Friedenshalle“ (umgangssprachlich „Gifthütte“, Berliner Str.). Dies bot nicht nur eine Plattform für ihre musikalische Leidenschaft, sondern auch für ihren Ideenaustausch und die Stärkung der Gemeinschaft, aus der heraus sie öffentliche Vorträge zu damals relevanten Themen organisierten.

Otto Walz war direkt in die Zusammenkunft zwischen lokalen Aktivisten und dem bekannten Dichter und Anarchisten Erich Mühsam im Februar 1930 involviert. Im Auftrag der Meininger Ortsgruppe der F.A.U.D. organisierte er eine Vortragsveranstaltung mit dem Thema „Die faschistische Gefahr!“ im Meininger Gasthaus „Loreley“ (Wettiner Straße 7), gefolgt von einem gemeinsamen Abend in der einladenden Atmosphäre der Bakuninhütte.

Eine besondere Bindung hatten Otto und seine Familie zu Fritz Scherer, einem Berliner Buchbinder, der 1930/31 der erste Hüttenwart der Bakuninhütte wurde. Über seine häufigen Aufenthalte bei Familie Walz, „wo es immer sehr musikalisch und lustig zuging“, schrieb Scherer in seinem Wandertagebuch: „Am Nachmittag kamen noch mehrere Jugendliche zusammen. Hier herrschte ein ordentliches Leben. So eine lebendige Gruppe habe ich noch nie entdeckt, dazu die schöne Hütte.“ An anderer Stelle beschrieb Scherer in Reimform, wie sich eine Meininger Ortsgruppe der syndikalistischen Jugend herausbildete:

Eine große Freude für mich war,
daß viel Jugendliche zu Walz hinkamen,
mit dieser kleinen tapferen Schar
hatten wir bald eine S. A. J. zusammen.
Syndikalistisch-anarchistische Jugend
tat sich diese Gruppe nennen
und man sollte weit und breit
diese kleine Gruppe kennen.
Mariechen und auch Heini Walz,
viele Kinder von Genossen
hatten sich auch ebenfalls
unserer Jugend angeschlossen.
Hedwig Arend, Georgs Schwester,
Max Stedtler von Dreißigacker,
in der Jugend unser Bester,
alle hielten zu uns wacker.Fritz Scherer

Zu acht sei jene Jugendgruppe, so beschreibt es Scherer, wöchentlich zu einem Esperanto-Kurs in die Heimvolkshochschule von Eduard Weitsch nach Dreißigacker hinaufgestiegen und bei Schnee anschließend mit Schlitten wieder hinab gesaust. Spaß und Bildung waren hier kein Widerspruch.

„Mariechen“ Walz 1932 an der Bakuninhütte

Otto Walz war nicht nur ein engagierter, sondern auch ein gebildeter Mensch mit politischem Sendungsbewusstsein. Das geht aus Schilderungen hervor, die über den 1. Mai 1931 an der Bakuninhütte überliefert sind. Zu jener Zeit war dies noch kein gesetzlicher Feiertag – begangen wurde er nur von Menschen mit historisch-politischem Bewusstsein: „Wieder wurde die schwarze Fahne aufgezogen und Genosse Otto Walz hielt die Gedenkrede und beton[te] die Entstehung dieses Arbeiter-Feiertages. […] Wieder war viel Leben hier […] von Genossen, Freunden, Sympathisanten und Fremden.“ Bis heute ist das Wissen kaum verbreitet, dass anarchistische Gewerkschaftskämpfe für den Achtstunden-Arbeitstag sowie eine juristische und gewalttätige Hatz auf alles Anarchistische, die im Haymarket-Massaker im Jahre 1886 in Chicago kulminierte, zum Ursprung des heutigen Mai-Feiertages gehören. In der Zeit des Nationalsozialismus, gegen den Otto Walz und sein Umfeld vergeblich anzugehen versuchten, wurde dieser Hintergrund durch eine nationale Erzählung überschrieben und zum gesetzlichen Feiertag erklärt.

Nicht weniger rabiat verfuhren die Nazis mit der Bakuninhütte. Im Zuge der Enteignung und Beschlagnahmung des Vereinsbesitzes 1933 war es Otto Walz, der den Schergen des neuen Systems zusagen musste, „sämtliche Embleme durch Abmeißeln zu entfernen“. So kam es, dass die steinerne Tafel mit dem Hüttenspruch, welche von Otto und seinem Sohn „Heini“ angefertigt wurde, von ihm selbst wieder zerschlagen werden musste. Trotz der Illegalisierung blieb Otto eine Kontaktperson für ein anarcho-syndikalistisches Antifa-Netzwerk zwischen Kassel und Thüringer Ortsgruppen.

Otto und Familie Walz mit Geflüchteten, Drachenbergkasserne im Hintergrund (ca. 1946)

Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete für die Betroffenen ganz Unterschiedliches. Für Fritz Scherer mitunter besonderes Glück im Unglück, da er als Sanitätssoldat der Wehrmacht ausgerechnet in ein Kriegsgefangenenlager nahe Meiningen kam. Hier konnte er Otto Walz über seine Situation informieren, indem er durch den Stacheldrahtzaun einem vorbeilaufenden Jungen zusammen mit einem Kanten Brot einen Zettel mit einer Nachricht zusteckte. Otto intervenierte beim Lagerkommandanten, was zur Freilassung von Scherer führte.

Die Erfahrungen von Nationalsozialismus und Weltkrieg veränderten Menschen und ihre Beziehungen. Die politische Differenz zwischen Otto Walz und seinem Weggefährten Franz Dressel wurde offensichtlich, als Otto sich aktiv am Aufbau einer KPD-Ortsgruppe und des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) beteiligte. Franz soll an einem Wahltag als Symbol der politischen Abgrenzung die Fahne der Bakuninhütte mit dem darauf abgebildeten zerbrochenen Gewehr aus dem Fenster gehängt haben. Ein endgültiger Bruch soll jedoch erfolgt sein, als Otto Walz angeblich die Bakuninhütte auf dem Sterbebett den neuen kommunistischen Machthabern übergab.

Andere Beziehungen überdauerten die Zeiten. So blieb die Verbindung zwischen Fritz Scherer und Otto Walz‘ Sohn „Heini“ bestehen, der nach dem Krieg in Innsbruck lebte und dort von Fritz besucht wurde.

Ob Otto Walz seine freiheitliche Gesinnung zu Gunsten des stalinistischen Kommunismus aufgab oder sie in diesem System als verwirklicht betrachtete, bleibt bislang unklar. Fest steht, am 4. November 1946 verlor Meiningen einen gut vernetzten und leidenschaftlichen Verfechter sozialer Gerechtigkeit. Er erlag dem Krebs, doch die Erinnerung an ihn bleibt lebendig.


Dieser Text basiert auf der Veröffentlichung von Kai Richarz: Otto Walz und Familie: Ein Leben für die soziale Gerechtigkeit und gegenseitige Hilfe, in: Stadt Meiningen (Hrsg.): 1923. Meiningen. Ein Zwischenfall, Meiningen 2023, S. 20–23.