Thüringen ist für den Syndikalismus innerhalb weniger Monate erschlossenes Gebiet im weitesten Sinne des Wortes geworden. Die Metropole Erfurt barg ja seit Jahrzehnten schon ausserordentlich regsame Genossen in ihren Mauern. Die Freie Vereinigung der Metallarbeiter hatte dort ihre Geburtsstätte und bis vor wenigen Jahren auch ihren Sitz. Es war deshalb zu erwarten, dass die Erfurter Genossen ihre Erfahrung und Tatkraft nach den Novembertagen in dem Dienst der sozialen Revolution stellen und dem Syndikalismus in ganz Thüringen organisatorisch die Wege ebnen würden. Wie ein Oelfleck breiteten die Lehren des Syndikalismus sich über das Land aus und ziehen fortgesetzt weitere Kreise. Unsere Agitatoren wussten von ihren Reisen in Thüringen nur Hocherfreuliches zu berichten. Der Ruf, diese Arbeit fortzusetzen, erschien deshalb sehr einladend, und es kann ohne Uebertreibung gesagt werden: Die Wirklichkeit übertraf alle Erwartungen.

Der Geist ist es, der lebendig macht.

Goldlauter bei Suhl
legte dafür beredetes Zeugnis ab. Nicht nur Arbeiter, auch die Erzieher der Jugend nahmen an der Versammlung teil und gaben durch diese Teilnahme dem Referenten willkommene Gelegenheit, in seinem Vorgtrag ein besonderes Kapitel über das Erziehungswesen einzuflechten, wie es sich im herrschaftslosen Kommunismus herausbilden wird und muss. Ein Hauch alt-russischen Kommunismus lagerte über dem Verlauf der Versammlung, wie ihn der Vortragende oft verspürt hat, so oft er im Auslande aus dem Munde russischer Prachtrevolutionäre die dokumentarischen Belege über russischen Kommunismus an seinem Geiste vorüberziehen lassen konnte, der selbst unter den wütendsten zaristischen Verfolgungen nie ganz unterdrückt werden konnte.

Meiningen.
Das freundliche, versonnene Residenzstädtchen des ehemaligen Duodez-Herzogtum hat sich vor Jahresfrist wohl nicht träumen lassen, dass am 27. Juli 1919 bereits eine syndikalistische Organisation die Fahne des herrschaftslosen Kommunismus entfalten und die Bewohner zu einem syndikalistischen Vortrag einladen würde. Bei nur spärlichem Besucht gewiss. Kaum hundert Frauen und Männer nahmen an der Versammlung teil. Doch was soll das besagen? Meiningen war bisher ein sozialpolitisches Dornröschen. Und doch erschienen beim ersten Anruf der Syndikalisten mehr Menschen, wie in manchen Versammlungen der Regierungssozialisten in ihren industriellen „Hochburgen“ anwesend sind. Zieht man diese Tatsache in Parallele, dann dürfen unsere Meininger Genossen mit dem ersten Anhieb mehr als zufrieden sein. Und sie werden mit ihrem Erstlingserfolg zufrieden sein. Im Kreise ihrer Genossen reichen sich gereifte Erfahrung und jugendfrische Begeisterung brüderlich die Hände. Schon recken sich ihnen die Arme der Arbeiter aus der Umgebung Meiningens in solidarischem Empfinden entgegen. Der nächste Agitator wird erfahren, was inzwischen von erprobten Genossen und den aufrichtig strebenden neuen Jüngern des Syndikalismus geleistet wird. Eine Anrempelung, aus Unwissenheit oder Papageiengeschwätzigkeit geboren, leistete sich ein treuer Diener der neugebackenen sozialdemokratischen „Werrawacht“. Doch das ist ein besonders zu behandelndes Kapitel, das den Wackeren zu billiger Reue veranlassen muss, sofern diese Gefühlsregung überhaupt noch in ihm rege ist.

Erfurt
liess sich für mehr als zweitausend Teilnehmer Vortrag über das Thema: „Durch revolutionäre Gewerkschaften zu Völkerfrieden und Völkerwohlfahrt“ halten. Die ungeteilte Zustimmung der Versammelten zu den Ausführungen des Vortragenden gab den Diskussionsrednern der K. P. D. die beste Gelegenheit, ein gedeihliches Verhältnis zwischen sich und der Erfurter Arbeiterschaft herbeizuführen. Diese Gelegenheit verpassten sie gründlich. Sie zogen es vor, dem vollständig abgetakelten Zentralismus nebst seiner dirnenhaften Schwester „Disziplin“ das Wort zu reden und diskreditierten somit ihre eigenen, autoritären, kommunistischen Bestrebungen aufs empfindlichste. Das ist tief bedauerlich. Wenn noch ein Funken Einsicht die Wortführer der K. P. D. in Erfurt beseelt, dann müssen sie sich zu besserem Verständnis des herrschaftslosen Kommunismus der Syndikalisten bequemen. Mit dem selbstmörderischen Schlagwort: „Die Gewerkschaften haben sich überlebt“, müssen sie endgültig brechen. Im Unterlassungsfall dürfen sie sonst — in Erfurt selbst binnen kürzester Frist — damit rechnen, von den herrschaftslosen Kommunisten aufgerollt zu werden. Das ist ohnehin der Geschichte ehernes Muss. Die Wortführer der K. P. D. haben es in der Hand, diesen Entwicklungsgang in guter Kameradschaft mitzuerleben.

Sömmerda
steht auf der Höhe der Erkenntnis, über die Wege zum herrschaftslosen Kommunismus mit syndikalistischen Kampfmitteln und Methoden. Hier sind die letzten Reste aller zentralistischen Irrungen überwunden. Wo, wie hier, ganze Organisationen geschlossen in die Reihen der Syndikalisten übertreten, da kann der Agitator volles Verständnis auf seimen Streifzügen in das Gebiet des weit verzweigten Lebens kommunistischen Gemeinwesens gewärtigen. Dazu bot das Thema „Zentralismus und Syndikalismus“ reichlich Gelegenheit.
Als zweiter Referent zeichnete Genosse Zehner ein plastisches Bild von der Entstehung und Entwickelung des Gewaltstreichs, der mit der Kündigung von Tausenden der Erfurter Arbeiter in der Gewehrfabrik verübt wurde. Der reich dokumentierte Vortrag förderte einen Rattenkönig ungeheuerlicher persönlicher und organisatorischer Sünden zutage. Die Versammlung nahm mit gespanntester Aufmerksamkeit von den interessanten Ausführungen des Genossen Zehner Kenntnis und spendete reichen Beifall für den ebenso klaren wie erschöpfenden Vortrag.

Jena
bildete den Schlusstein in der Agitationsepisode des Thüringerlandes. Auch hier zeigte sich so recht, was guter Wille und innere Überzeugung zu leisten vermögen. Der rührigen Tätigkeit und uneigennützigen Hingabe der Genossen in und um Jena ist es zu verdanken, dass der alten Universitätsstadt eine neue Fakultät angegliedert ist — der internationale Syndikalismus.
Es war ein erhebendes Gefühl, hier in Jena eine festgefügte syndikalistische Organisation tatkräftig am Werke zu finden. Hier, wo ein Bebel der syndikalistischen Massenstreikidee die erste Reverenz erweisen musste, wo die wuchtigen Vorstösse der Berliner Syndikalisten aus dem Jahre 1904 dem sozialdemokratischen Parteitag ihren Stempel auf zwangen, hier fand die erste syndikalistische Tagung unter dem Beifall sämtlicher Teilnehmer statt. Der nächste Agitator kann hier seine Freude erleben. Das wie in Erfurt behandelte Thema veranlasste einen jungen Mann zu polemischen Erwiderungen. Das soll ihm verziehen sein.
Gruss und Hand allen lieben Mitkämpfern im Thüringerlande, wie immer unter der Devise: Spiess voran, drauf und dran!
Cyclop.

Cyclop [d.i. Fritz Köster], in: Der Syndikalist vom Sonnabend, 16. August 1919, Jg. 1, Nr. 36, S. 7f. Die Hervorhebungen stammen nicht aus dem Original.

Für den Hinweis auf diesen Artikel danken wir dem Institut für Syndikalismusforschung, Bremen. Siehe: Gründung FAUD Meiningen 1919.